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Paris ist geschätzte fünfhundert Millionen Quadratlichtjahre groß, protzig, voller Autos, Touristen und Franzosen. Die Boulevards und Avenuen erstrecken sich über mehrere Äonen in grundsätzlich zwei Richtungen und besitzen nicht den geringsten Anstand, an einem Platz oder einer Kreuzung ihre Existenz zu beenden, und einmal in die Nebenstraßen geraten, hat man sich binnen Minuten verlaufen.
Hier kommt man erst gar nicht dazu, sich wie eine Null zu fühlen. Die subjektiv empfundene Bedeutsamkeit stabilisiert sich spätestens am Morgen nach der Ankunft, sobald der Organismus den Kulturschock verdaut und sich auf das neue Bezugssystem (acht bedeutsame Ereignisse pro Minute seit der ersten Besiedelung dieser Gegend, bezeugt durch Monumente, Denkmäler, Straßenschilder und Gedenktafeln) eingestellt hat, bei etwa Minus–Acht.
Derart herabgestuft könnte man erstaunlich fröhlich durchs Leben gehen. Sobald sich das mit der Bedeutsamkeit erledigt hätte, wäre auch der geringste Sinn für Dinge wie Würde oder Pflicht dahin, und man ließe sich einfach treiben in dem schönen Bewußtsein, daß alle großen und wichtigen Dinge bereits geleistet wurden, und zwar von Franzosen. Man könnte und man ließe, wenn da nicht die Kultur und ein nicht ganz unbedeutender Bildungsauftrag wären. Wir lesen im Goethe–Institut nicht zuletzt, um der nunmehr 75jährigen Geschichte unseres Zentrums zu gedenken. Welcher Ort würde sich dafür besser eignen als Paris – dieses große, überaus lebendige Mausoleum.
Dienstag, später Nachmittag: Das Flugzeug legt sich schief, steuert Richtung Westen. Die Stewardessen, eine davon ganz Sonja Rykiel, mit struppigen, roten Haaren und kohlrabenschwarz eingefärbten Augenbrauen, servieren Getränke und Cracker. Ich betrachte abwechselnd das Air–France–Magazin, mit seinen wertlosen, da teuren Paris–Tips, die Alpen und den an mich ausgeteilten Fragebogen, den ich mit einer etwas zu hymnischen Bewertung ausfüllen werde. Die Befragung ist nicht wirklich anonym, da der namentlich zugewiesene Sitzplatz auf dem Umschlag vermerkt ist — ich bin da vorsichtig. Nadine Englhart, fluglinienbekannte Verächterin des Air–France–Service; nein, das muß nicht sein. Vielleicht wirft man dann keine Cracker mehr auf mich, sondern Pumps.
Die Alpen wirken vom Flugzeug aus betrachtet wie die Anleitung für einen Ingenieur, der ein mittelgroßes Gebirge zu konstruieren hat: „Mach sie schroff, aber nicht zu schroff. Ein bißchen Erosion darf sein, Kargheit, ein paar schneebedeckte Gipfel und etwas Dunst.“ Ich bilde mir ein, das Matterhorn zu sehen und grüble eine Weile darüber nach, ob das sein kann, dann schwenkt das Flugzeug Richtung Norden, landet alsbald und spuckt seine Passagiere am Charles–de–Gaulle aus. Nach meiner Ankunft im Hostel besorge ich mir noch ein kaltes Abendessen im nächstgelegenen Supermarkt, setze mich an den Tisch und schmökere — Tabouleh, Karottensalat und Schokolade kauend — mangels spannenderer Lektüre im Neuen Testament.
Mittwochvormittag, kurz nach meinem ersten Pariskoller: Ich ziehe die für Auslandsgespräche offenbar nutzlose französische SIM–Karte aus meinem Mobiltelefon, stecke meine eigene wieder ein und rufe Peter Finkelgruen an, hauptsächlich, um zu jammern und jemanden auf Deutsch antworten zu hören. Während des Gesprächs werden meine Augen feucht und meine Stimme bröckelt. Ich werde am Freitag zurückfliegen, in mein grundsolides München, in den kommenden Stunden und Tagen werde ich mich in einer deutschsprachigen Blase befinden. Eigentlich kann mir nichts passieren, dennoch fühle ich mich reichlich Minus–Acht.
Am Abend findet die erste Veranstaltung statt. Neben einem recht spärlichen Trupp von Zuschauern wird eine größere Gruppe von Jugendlichen durch die Eingangstür in den großen Veranstaltungssaal im Kellergeschoß des Pariser Goethe–Instituts geschleust, setzt sich hin und erwartet in höchster Anspannung — etwa wie nasse Putzlumpen über einem Eimerrand hängen — den Beginn der Lesung. Währenddessen klärt Sabine Belz vom Goethe–Institut die versammelte Zuhörerschaft darüber auf, daß die Schüler Französisch lernen, also etwas mehr Einblick in das Geschehen des heutigen Abends haben dürften als beispielsweise ich.
Nach einer Einführung zur Geschichte unseres Zentrums durch Katharina Born trägt die Schauspielerin Cornelia Geiser einige ausgewählte Briefe, Gedichte und andere Texte unserer frühen Mitglieder auf Deutsch und Französisch vor: Rudolf Olden, Anna Seghers, Bert Brecht, Ernst Toller und Nelly Sachs sind vertreten. Ich genieße den Anflug von Wut, mit der Cornelia Geiser die 1934 beim Internationalen PEN–Kongress in Ragusa gehaltene Rede Ernst Tollers intoniert. Perfekt.
Sabine Belz und Nicole Bary, die Leiterin des Vereins "Les Amis du Roi des Aulnes" (http://www.leroidesaulnes.org) — auf gut Deutsch „Die Freunde des Erlkönigs“ — übernehmen die Vorstellung der Anthologiebeiträger. Zunächst trägt Gabrielle Alioth ihren Text vor, der zwar nicht in der Anthologie, dafür aber in einer Ausgabe der Zeitschrift Litterall enthalten ist, die, herausgegeben von Nicole Bary, auf die Übersetzung deutscher Literatur ins Französische spezialisiert ist. Aufgrund der Abwesenheit von Günter Kunert und Peter Finkelgruen werden ihre Beiträge von Katharina Born und mir, jeweils im Wechsel mit Cornelia Geiser, die den französischen Part übernimmt, vorgelesen.
Dies ist meine erste öffentliche Lesung — also, auf einer Bühne, mit Mikrofon und vor fünfzig Leuten im Publikum — und ich habe fünf Minuten, den Anwesenden diesen Abend zu versauen. Während die anderen noch zugange sind, beobachte ich das Publikum. Es wirkt höflich, gebildet und zutiefst gelangweilt. Als ich an der Reihe bin, ziehe ich den Kopf ein, spule den Text so gut wie möglich herunter und bemerke zu meiner Erleichterung, daß meine Mikrofon–Stimme nicht so entsetzlich klingt, wie ich vermutet hätte. Jedenfalls kommt niemand auf die Bühne gesprungen, um mich rauszuwerfen oder zu lynchen.
Nach einer einstündigen Pause rauscht die auf Französisch geführte Podiumsdiskussion mit Barbara Honigmann, Georges–Arthur Goldschmidt und der Moderatorin Christine Lecerf nur deshalb nicht komplett an mir vorbei, weil Gabrielle Alioth und Dieter Schlesak, die in meiner Nähe sitzen, das auf der Bühne Diskutierte hin und wieder halblaut kommentieren. Nach dem Ende der Veranstaltung fällt die Verabschiedung leider etwas hastig aus. Frau Belz drängt zur Eile, da, wie sie uns mitteilt, die Restaurants in diesem Viertel ihre Küchen bereits um zehn Uhr dichtmachen, doch das exzellente Abendessen und der Wein machen die Rennerei mehr als wett, ebenso die Stadtrundfahrt nach dem Essen. Eiffelturm, Champs Elysees, Invalidendom, Arc de Triomphe. Der Fahrer hat einen Navi, der erst versagt, als es darum geht, unser Hostel im Gewirr der Einbahnstraßen um die Rue de Gergovie zu finden. Vor dem Einschlafen amüsiere ich mich damit, die Offenbarung des Johannes mit Iron Maidens legendärem Stück „666 — Number of the Beast“ im Ohr zu lesen.
Am nächsten Tag geht es durch die langen Gänge der Bibliothèque Nationale, wo wir von der Leiterin der deutschen Abteilung herumgeführt und unter anderem darüber aufgeklärt werden, daß Architekten eine noch eitlere Brut sind, als man von Schriftstellern annimmt. Nichts, aber auch gar nichts darf an den Sichtbeton geklebt werden, der die Innenausstattung der vier Gebäude dominiert, für die Sonnenblenden mußte mit harten Bandagen gekämpft werden und die sich innerhalb des Gebäudevierecks wie eine Fata Morgana ausnehmende Parkanlage wird fein säuberlich von allem Getier freigehalten — die Katze, welche dort vor einigen Jahren seßhaft zu werden drohte, wurde letztendlich eingefangen und ins niederländische Exil geschickt, die Kaninchen umgesiedelt und die Tauben fallen regelmäßig den eigens zu diesem Zweck angestellten Bussarden zum Opfer.
Vor der abendlichen Veranstaltung laufe ich noch kurz die Seine entlang, um einige Bilder vom Eiffelturm für die Daheimgebliebenen zu schießen, gewissermaßen als Beweis, daß ich tatsächlich da gewesen bin, und verpasse darüber beinahe den Beginn der Lesung mit Katharina Born, Dieter Schlesak und Martin R. Dean, der eine leider nicht in der Anthologie dafür aber im Litterall–Heft enthaltene Satire über die immer heftiger grassierende Manie, persönliche Hinterlassenschaften von Schriftstellern zu archivieren, vorträgt.
Der Text trifft ins Schwarze und ist zudem lustig. Dennoch wird es mir weiterhin großes Vergnügen bereiten, in den faksimilierten Briefen längst verstorbener Schriftsteller herumzuschnüffeln — beispielsweise in den kurzen, bissigen, auf der Schreibmaschine verfaßten Briefen von Alfred Kerr, die einen zum Lachen reizen — auch weil man das Gefühl hat, Kerr hätte mit Einrichtungen wie e–Mail und Twitter weniger Probleme gehabt, als so mancher Zeitgenosse.
Der Rest des Abends wird anstrengend, die Diskussion entgeht mir beinahe vollständig, auch wenn Martin R. Dean von Zeit zu Zeit versucht, Fragen oder Antworten auf Deutsch einzuflechten — insbesondere die Sache mit den sogenannten Helvetizismen, die er lange aus seinen Werken weglektorieren ließ, interessiert: Wem gehört eine Sprache? Gibt es eine offizielle Sprache? Landet man in der rechtsradikalen Ecke, wenn man bestimmte Redewendungen benutzt, die auch von Rechtsradikalen mißbraucht werden?
Es erinnert mich zunächst an meine Teenagerzeiten, in denen die heiße Liebe zu irgendeiner Musikertruppe prompt erkaltete, wenn ich feststellen mußte, daß diese auch von Leuten verehrt wurden, die ich nicht mochte. Vielleicht ist dies alles lediglich eine Frage der eigenen Souveränität — grundsätzlich halte ich es für falsch, einzelnen Worten bis hin zu ganzen Sprachen Stempel aufzudrücken, nur weil sie zu irgendeinem Zeitpunkt in schlechte Gesellschaft geraten sind. Die Sprache an sich ist für derlei Unannehmlichkeiten nicht verantwortlich, sondern die sie verwendenden Menschen. Man kann „Reinigungsmanagerin“ sagen, „Putze“ denken, dazu ein freundliches Gesicht aufsetzen und trotzdem der Putzfrau den Lohn kürzen. An ihren Früchten sollt Ihr sie erkennen...
Als ich gerade dabei bin, Appetit auf die Diskussion zu entwickeln, kommt wieder eine französische Woge und spült meine Gedanken weg. Minus–Acht. Nach der Veranstaltung ist der Lauf zu den Fleischtöpfen Erlösung und Routine zugleich.
Am nächsten Morgen, es ist der Freitag, verabschiedet sich mein deutschsprachiger Kordon und tritt die Weiterreise an: Gabrielle macht sich auf den Weg zum Flughafen und die Schlesaks wechseln in ein Hotel. Auf mich gestellt beschließe ich, mir Paris anzusehen, ein dreistündiger Spaziergang durch die Innenstadt, vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten: Jardin du Luxembourg — Louvre — Île de la Cité — Notre Dame und wieder zurück. Vielleicht braucht man tatsächlich ein paar Tage, bis man sich akklimatisiert hat, vielleicht muß man einfach ins kalte Wasser geworfen werden, um die Scheu vor Paris und seinen Einwohnern abzulegen.
Ich bemerke, daß ich frecher werde, wenn es darum geht, mich mit meinen rudimentären Französisch–Kenntnissen ("à bientôt" habe ich schon immer mit "eine tote Biene" übersetzt), viel Englisch und Händen und Füßen durchzuschlagen. Die Franzosen reagieren bestenfalls amüsiert, wahrscheinlich auch, weil ich mein zweitbestes Iron–Maiden–T–Shirt trage, auf dem Eddie die Mumie in Beinahe–Lebensgröße grinst, was nur noch von meinem eigenen Gegrinse übertroffen wird, wenn ich mein selbstverständlich falsches „Je ne parle Francais“ in die Gegend krähe. Ich erstehe Souvenirs, Auskünfte, ein Mittagessen. Erst am Flughafen verläßt mich das Glück — der mit viel Ohlala bestellte, kochendheiße Espresso ergießt sich über Eddie und die Jeans. Minus–Acht.
Vielleicht muß man es mit Paris immer wieder versuchen.